5. bis 9. Dezember 2024
im Hotel Hinteregger in Matrei/ Osttirol (Österreich)
Tagungsthema: „Gemeinsam – allein. Dichotomie und/oder Übergang in Natur und Kultur?“
In den vergangenen Jahren wurde unser eingefahrenes Verständnis scheinbar selbstverständlicher Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft auf eine Probe gestellt. Der von Bodo Wartke komponierte und den ‚Vokalhelden‘ (Kinder- und Jugendchor) der Berliner Philharmoniker im WorldWideWeb vorgetragene Song zum Lockdown (9.10.2020) legt ein beredtes Zeugnis davon ab. In der Pandemie waren wir alle mehr oder weniger allein, gemeinsam allein. Viele spürten erst damals, was es heißt, allein, isoliert und nur virtuell verbunden zu sein. Sind ‚gemeinsam‘ oder ‚allein‘ disjunkte Alternativen, kennzeichnen sie dynamische Perspektiven der Entscheidungsfindung? Stimmt die alte Weisheit, man sei schneller allein, komme aber in Gemeinschaft weiter?
Ohne Frage lässt sich der Übergang oder die Dichotomie zwischen ‚gemeinsam‘ oder ‚allein‘ von menschlichem Sozialverhalten auf jenes von Tieren und universell noch weiter auf die Beziehung und Erforschung von Ganzheiten und ihren konstituierenden Teilelementen ausdehnen. Mathematiker, Logiker und Philosophen versuchten sich schon seit langem an dieser Problematik. Bekannt ist das sogenannte Sorites-Paradoxon, das die Frage betrifft, ab wie vielen Sandkörnern man von einem Sandhaufen sprechen könne. Präziser wäre die Frage, wie viele Sandkörner (Menschen, Büffel) es braucht, um das Verhalten eines Sandhaufens (Mob, Stampede) zu zeigen.
In der klassischen Physik sind Atome (von altgriechisch ἄτομος ‚unteilbar‘, dem das lateinische individuum entspricht) die Bausteine, die mit ihrer Fähigkeit, sich zu Molekülen und Körpern zu verbinden, somit unsere gesamte Materie und das ganze Universum zusammensetzen. Doch sind Atome nicht unteilbar, wie bei der Namensgebung angenommen, sondern aus noch kleineren Teilchen aufgebaut, die gar nicht mehr über die Eigenschaften von Materie verfügen. Jüngere physikalische Vorstellungen wie Einsteins relativitätstheoretisches Modell sehen Körper, Raum und Zeit als ein untrennbares dynamisches Gewebe, wobei die Massen von Körpern auch ‚nur‘ eine Form der Energie darstellen.
Die Evolutionsbiologie zeigt, wie sich nach Milliarden Jahren, in denen es nur einzellige Lebensformen gab, Organismen zu Systemen mit neuen, überraschenden Eigenschaften zusammenschlossen und die Entwicklung weiterer kompetitiver und kooperativer Systeme fortlaufend Neues hervorbrachte. Dies kommt letztlich in den vielfältigen sozialen Beziehungen der Tiere und Menschen zum Ausdruck – Paar, Familie, Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft – die unter verschiedenen Prämissen in Biologie und Anthropologie, Ethologie, Soziologie und Ethnologie analysiert werden.
In Biologie und Ökologie wurde dieser Zusammenhang mit Einbeziehung des Pflanzenreichs auf Lebensgemeinschaften/Biozönosen erweitert. Für die Otto Koenig Gesellschaft haben Erlung Kohl und Hans Peter Kollar diesen Themenkomplex in zwei wunderbar fokussierten Kurzbeiträgen zum heurigen Jahresbrief beleuchtet. Ganzheiten und ihre Beziehungen zu ihren Teilen stellen nicht zuletzt die Ökologie vor große Herausforderungen. Die Ansichten dazu gehen weit auseinander. Da gibt es jene, die darauf hinweisen, dass angeblich ein autotrophes zusammen mit einem heterotrophen Bakterium schon ein Ökosystem bilden könnten, und jene, die von der unverzichtbaren Rolle eines jeden Organismus in einem Ökosystem schwärmen.
Analogien zu gesellschaftlichen Systemen drängen sich auf. Es scheint so zu sein, dass gewisse Arten/Personen Schlüsselrollen spielen und andere eher Mitläufer sind. Den Schutz oder das Ma-nagement der Ganzheit versucht man mittels besonders populärer Arten/Menschen voran zu treiben. In den historischen Wissenschaften wird die Geschichte von bedeutenden Einzelpersonen ebenso wie die der Strukturen und Massen geschrieben. Noch im 19. Jahrhundert war das Konzept ‚Persönlichkeiten – seinerzeit vornehmlich Männer – machen Geschichte‘ (als Leader in Politik und Wirtschaftsleben) dominant, das sich bis heute in der Literaturgattung ‚Biographie‘ widerspiegelt.
Zentral für die Religionswissenschaften sind die Beziehungen zwischen Göttern, Gläubigen und Glaubensgemeinschaften. Die Psychologie untersucht individuelles Verhalten, Emotionen und mentale Prozesse. Sie kann erklären, warum manche Menschen lieber allein sind, während andere Gemeinschaft suchen. Gesundheitliche Auswirkungen von Dichtestress und vor allem Einsamkeit sind Thema in der Medizin. Solidarität und Menschlichkeit stellen zentrale Anliegen dar, die in der Philosophie diskutiert werden.
Ein spezielles Thema in Ökonomie, Wirtschafts- und Sozialgeographie bilden gemeinschaftliche Nutzungsformen (Allmende, Commons), die jeweils einer konkreten Gruppe von Nutzern zur Verfügung stehen, sowie Gemeingüter, die für alle potenziellen Nachfrager frei zugänglich sind und die von mehreren oder sogar allen gleichzeitig genutzt werden können. Bevölkerungsdruck und zunehmende Ressourcenknappheit stellen uns aktuell vor die Herausforderung, dass die Nutzung auch der Gemeingüter gesellschaftlich ausgehandelt und nachhaltig geregelt werden müsste, wenn wir unsere Zivilisation erhalten wollen. Doch politisch steuert unser Jahrhundert auf die große Auseinandersetzung zwischen kollektivistischen und individualistischen Systemen zu, die eine gemeinsame Bewältigung brennender globaler Probleme zu gefährden droht.
In den vorangestellten Absätzen wurde schlaglichtartig beleuchtet, wie unser Thema in vielen disziplinären Kontexten eine bedeutende Rolle spielt. Wir wollen uns nun auf die Suche nach dem begeben, was das Allein- und/oder gemeinsam Sein ausmacht, bedingt und bewirkt, wobei beide Formen allein oder miteinander, als Gegensatzpaar oder als (fließender) Übergang thematisiert werden können. Allein oder gemeinsam, Teil oder Ganzes; sich diesen Spannungsfeldern aus der Sicht der in den Matreier Gesprächen vertretenen Disziplinen zu nähern, verspricht wieder anregende Tage im winterlichen Osttirol. Wir freuen uns auf Ihre/Eure Vortragsvorschläge!
Oliver Bender, Bernhart Ruso, Hans Winkler
Organisatorisches
Wer einen eigenen Beitrag in Form eines 20-minütigen Vortrages (mit anschließender 20-minütiger Diskussion) anbieten möchte, der möge uns dies bitte bis zum 30. Juli 2024 mit Angabe des Themas mitteilen. Wir bitten um Verständnis, falls durch die vorgegebenen zeitlichen Rahmenbedingungen unter Umständen eine Auswahl der Referate nötig wird. Rechtzeitig im Spätsommer wird das (vorläufige) Programm mit den technischen bzw. organisatorischen Einzelheiten ausgesendet.
In diesem Sinne freuen wir uns schon zu diesem frühen Zeitpunkt im Jahr auf interessante und anregende Vorträge bei den 49. Matreier Gesprächen im Dezember 2024.
Mit herzlichen Grüßen
Bernhart Ruso & Oliver Bender
(Vorsitzender Otto Koenig Gesellschaft bzw. Wissenschaftlicher Leiter Matreier Gespräche)
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